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Die Viele-Zweige-Interpretation
 
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A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 31. Mai 2024 11:09    Titel: Die Viele-Zweige-Interpretation Antworten mit Zitat

Aus dem Thread 'Viele fiktive Welten':

TomS hat Folgendes geschrieben:

Wollen wir jetzt die kritischen Punkte diskutieren?

Ja.

TomS hat Folgendes geschrieben:

Was mir lediglich auffällt ist, dass diese Kritikpunkte an der MWI – letztlich zurückreichend über Everett bis zu Schrödinger und Einstein –

Die MWI reicht nicht weiter als bis Everett (1957) zurück, auch wenn Sie gerne Schrödinger und Einstein als Kronzeugen für Ihre Sicht hätten. Vorher kann es also keine Kritik an der MWI gegeben haben. Einstein betont sogar (wenige Jahre vor Everett), dass die Natur als Ganzes einmalig ist, vertrit also explizit eine Ein-Welten-Theorie:
Albert Einstein hat Folgendes geschrieben:

Die Natur als Ganzes kann eben nur als individuelles (einmalig existierendes) System gedacht werden und nicht als eine ''System-Gesamtheit''.

(S. 40 in: A. Einstein, Elementare Überlegungen zur Interpretation der Grundlagen der Quanten-Mechanik, S.33--40 in: Scientific papers presented to Max Born, Oliver and Boyd, New York 1953.)

Was in der Literatur über die MWI steht, davon kenne ich einen repräsentativen Teil recht genau. Everett selbst ist präzise - dem kann man deshalb auch logische Mängel in seiner Herleitung der Bornschen Regel nachweisen. Bei seinen Nachfolgern ist aber leider keiner der entscheidenden Begriffe mathematisch präzise. Alles ist so vage gehalten, dass sich theoretisch kaum etwas Klares über das Wesen der vielen Welten sagen lässt.
TomS hat Folgendes geschrieben:

an mich gerichtet werden, nicht an viele namhafte Physiker, die sich seit Jahrzehnten (!) damit befassen.

Weil ich mit Ihnen diskutiere, interessiert mich (und kritisiere ich) nur Ihre Sicht der MWI. Leider hat nämlich jeder, der über die MWI schreibt, seine eigene vage Version davon, wenn er nicht bloss abgeschrieben hat. Sie sagen z.B. lieber Zweige (die nur in den Formeln vorhanden sind) als Welten (die es wirklich gibt), benutzen aber doch letztere, wenn Sie aus den wenigen Formeln, die Sie hinschreiben, ohne Konjunktiv Bierkrüge und Fussballmannschaften herbeizaubern.

Um volle Klarheit über Ihre Sicht der Dinge zu bekommen, werde ich also Ihre Interpretation der MWI die Viele-Zweige-Interpretation (VZI) nennen. Um die geht es also in diesem Thread. Dafür sind alleine Sie verantwortlich, und Kritik daran trifft Sie dann zu recht.

TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich denke, das ist das zentrale Missverständnis.

Gemäß Everett et al. – siehe z.B. Wallace – liegen der Quantenmechanik zwei fundamentale Axiome zugrunde:
1. Der physikalische Zustand eines abgeschlossenen Systems wird durch einen Einheitsvektor in einem separablen Hilbertraum beschrieben.
2. Die Zeitentwicklung dieses Einheitsvektors erfolgt immer unitär.

Ende!

Alles weitere – Wahrscheinlichkeiten, Projektionspostulat bzw. Kollaps, die spezielle Auszeichnung einer Messung … – sind nicht Gegenstand der Axiome, sondern Konsequenzen für spezielle Systeme.


Wollen wir also mal schauen, wie weit wir mit diesen zwei fundamentalen Axiomen Ihrer VZI kommen, ohne etwas anderes zu postulieren.

Um über die Bedeutung der Axiome für die Physik reden zu können, brauchen wir ein paar Definitionen.

Das Universum nenne ich das kleinste abgeschlossene System U, das uns enthält. Es ist offenbar das einzige abgeschlossene System, das uns experimentell zugänglich ist.

Laut den Axiomen der ZWI hat dieses Universum U einen Zustand u in Form einer Wellenfunktion, die alles beschreibt. was existiert und beobachtet werden kann. Alle Physik muss sich also damit beschreiben lassen, indem man geeignete Objekte darin identifiziert und die beobachtbaren Eigenschaften dieser Objekte aus der Struktur und Dynamik dieses universellen Zustands u ableitet. (Ich benutze lateinische Buchstaben für Variablen, weil mir das Tippen von Formeln hier zu kompliziert ist.)

Sind wir uns soweit einig?

Ein sehr attraktiver Ausgangspunkt, wenn sich das realisieren lässt. (Ich denke, das ist das einzig Attraktive, weshalb viele Physiker mit der MWI liebäugeln. Alles andere ist abstossend.)
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18740

Beitrag TomS Verfasst am: 31. Mai 2024 11:51    Titel: Antworten mit Zitat

Wir sind uns sehr weitgehend einig.

Einstein ist – da haben Sie recht – kein Kronzeuge für die MWI. Ich nenne ihn jedoch als Kronzeugen für einen ontischen Anspruch bzgl. der Quantenmechanik. Ob ihm die MWI gefallen hätte, wage ich zu bezweifeln, fragen können wir ihn leider nicht. Die Bohmsche Mechanik erschien ihm zu simpel, aber der ontische Standpunkt war mit seinem verwandt.

Die VZI – danke 😉 – ist mein Verständnis insbs. von Zeh und Everett (ich bin seit 25 Jahren aus der Forschung raus, habe nie an diesen Themen gearbeitet, kann also nur mein Verständnis dessen, was ich heute in meiner Freizeit lese verteidigen; daher ist es sicher lückenhaft).

Mir gefällt der Begriff "viele Welten" nicht, weil er mystisch aufgeladen ist, und weil er zwei unterschiedliche Begriffe von "Welt" enthält.

Mein Verständnis:
1) es gibt eine Welt, ein abgeschlossenes System, Sie nennen es das Universum, mathematisch repräsentiert durch einen Zustandsvektor und dessen unitäre Zeitentwicklung
2) es gibt im Zuge der Wechselwirkung mit makroskopischen Subsystemen einen Prozess der Dekohärenz, mathematisch entwickelt von Zeh et al., der insbs. eine Basis auszeichnet, bzgl. der eine vorzugsweise Zerlegung des Zustandsvektors erfolgt
3) für spezielle makroskopische Subsysteme liegt eine Korrelation zwischen Eigenschaften eines damit wechselwirkenden mikroskopischen Subsystem und dem makroskopischen Subsystem vor; dann dürfen wir von einem Messgerät und einer Messung sprechen
4) diese so gewonnenen Komponenten nenne ich Zweige, den Prozess Verzweigung; da diese Zweige inkl. der Freigeitsgrade, die man weiteren speziellen Subsystemen – den Beobachtern – zuschreibt, wechselweise nicht mehr interferenzfähig sind und sich autonom unter Zeitentwicklung verhalten, nennt man sie in der Literatur "Welt"; dies hat eine gewisse Berechtigung, da sie den "mitverzweigten" Beobachtern als vollständige Welt erscheinen

Nun zu den wesentlichen Kritikpunkten:
A) die MWI argumentiert ausschließlich entlang recht einfacher, lösbarer Modelle; ob realistische Modelle sich ebenso verhalten, ist m.E. eine unbewiesene Hypothese (das ist letztlich Ihre Stoßrichtung in der TI)
B) alles, was ich bisher zur Ableitung der Bornschen Regel gelesen habe, ist sehr verwickelt; ich habe nicht den Eindruck, dass eine nachvollziehbare und allgemein akzeptierte Ableitung existiert
C) ein Zweig ist letztlich nicht ein einfacher Vektor sondern ein Unterraum; ich kenne keine einheitliche Definition, wie genau ein Zweig mathematisch definiert ist
D) damit verwand ist ein ontisches Problem; anhand der Messung eines zunächst isolierten zwei-Zustands-Systems

Die Struktur des Zustandsvektors des Gesamtsystems (M für Messgerät und E für Environment) nach Messung lautet

a) die MWI interpretiert diese Terme ontisch, unabhängig von den Werten für alpha und beta; ein "unwahrscheinlicher Zweig" ist für den Beobachter "in diesem Zweig" nicht weniger real als ein "wahrscheinlicher Zweig"
b) die cross-terms sind nicht exakt Null – das wären sie nur im jeweiligen Grenzfall unendlicher langer Zeiten oder unendlich vieler Freiheitsgrade – sondern lediglich extrem unterdrückt; die Zweig-Definition ist zudem nicht eindeutig

D.h. genauso wie eine Komponente (des zunächst isolierten Quantensystems) mit winzigem alpha oder beta vor der Messung real ist, ist auch nach der Messung ein Zweig mit "Spin a, Messung b" real – unabhängig davon, wie winzig dessen Amplitude aufgrund der Dekohärenz ist. Damit sind bzw. bleiben aber alle Zweige gleichermaßen real.

Damit ist die MWI für mich zumindest unfertig. Besser gesagt – wenn (A) das eigentliche Problem darstellt – die einfachen Modelle zu (A) suggerieren eine Interpretation, die durch verbesserte Modelle ggf. obsolet wird.

E) die MWI wurde insbs. von Kosmologen positiv aufgenommen, da sie die Möglichkeit eröffnet, Quantenmechanik in einem einzigen und abgeschlossenen System ohne externen Beobachter zu betreiben; wir haben aber noch gar keine quantenmechanische Theorie für das Universum, insbs. nicht für die Gravitation, wobei unklar ist, ob diese überhaupt quantisiert werden sollte, ob sie nicht ein emergentes Phänomen o.ä. darstellt (wenn sie quantisiert wird, wie z.B. in der LQG, liefert sie keine unitäre Zeitentwicklung sondern einen Constraint H ~ 0)

Das ist keine Kritik an der MWI, lediglich die Feststellung, dass es für eine ontische Interpretation prinzipiell noch zu früh ist. Ich denke, (E) können wir hier ausklammern.

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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.


Zuletzt bearbeitet von TomS am 31. Mai 2024 12:58, insgesamt 2-mal bearbeitet
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 31. Mai 2024 12:29    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Wir sind uns sehr weitgehend einig.

Gut. Endlich mal!
TomS hat Folgendes geschrieben:

Mein Verständnis:
1) es gibt eine Welt, ein abgeschlossenes System, Sie nennen es das Universum, mathematisch repräsentiert durch einen Zustandsvektor und dessen unitäre Zeitentwicklung
2) es gibt im Zuge der Wechselwirkung mit makroskopischen Subsystemen einen Prozess der Dekohärenz, mathematisch entwickelt von Zeh et al., der insbs. eine Basis auszeichnet, bzgl. der eine vorzugsweise Zerlegung des Zustandsvektors erfolgt
3) für spezielle makroskopische Subsysteme liegt eine Korrelation zwischen Eigenschaften eines damit wechselwirkenden mikroskopischen Subsystem und dem makroskopischen Subsystem vor; dann dürfen wir von einem Messgerät und einer Messung sprechen
4) diese so gewonnenen Komponenten nenne ich Zweige, den Prozess Verzweigung; da diese Zweige inkl. der Freigeitsgrade, die man weiteren speziellen Subsystemen – den Beobachtern – zuschreibt, wechselweise nicht mehr interferenzfähig sind und sich autonom unter Zeitentwicklung verhalten, nennt man sie in der Literatur "Welt"; dies hat eine gewisse Berechtigung, da sie den "mitverzweigten" Beobachtern als vollständige Welt erscheinen

Und wo ordnen Sie da die Bierkrüge und Fussballmannschaften ein, die Sie in den Diskussionen mit Mister_X herbeigezaubert haben (in einem apodiktischen Tonfall, im Indikativ)?
TomS hat Folgendes geschrieben:

Nun zu den wesentlichen Kritikpunkten:
C) ein Zweig ist letztlich nicht ein einfacher Vektor sondern ein Unterraum; ich kenne keine einheitliche Definition, wie genau ein Zweig mathematisch definiert ist

Mich interessiert hier nur Ihre Definition. Bisher sagten Sie, die Zweige seien mathematisch real, dann müssen Sie ja eine wohldefinierte Version im Sinn gehabt haben.
TomS hat Folgendes geschrieben:

die MWI interpretiert die Terme ontisch

Und wie interpretiert sie die VZI? Ich kann hier nur letztere diskutieren.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18740

Beitrag TomS Verfasst am: 31. Mai 2024 14:19    Titel: Antworten mit Zitat

Ich habe keine eigene Interpretation, nur ein Verständnis der MWI, das ich oben zusammengefasst habe, und das meiner Meinung nach insbs. Zeh und Wallace folgt, soweit ich es gelesen habe auch Carroll.

Ziel der Zusammenfassung war auch keine eigene Position, sondern eine Basis für meine abschließende Kritik bzw. meine offenen Fragen. Die gelten nach meinem Verständnis allgemein.

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A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 31. Mai 2024 14:51    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Ich habe keine eigene Interpretation, nur ein Verständnis der MWI, das ich oben zusammengefasst habe, und das meiner Meinung nach insbs. Zeh und Wallace folgt, soweit ich es gelesen habe auch Carroll.

Ziel der Zusammenfassung war auch keine eigene Position, sondern eine Basis für meine abschließende Kritik bzw. meine offenen Fragen. Die gelten nach meinem Verständnis allgemein.


OK. Dann werde ich halt ohne Ihren Input versuchen, etwas Sinnvolles aus Ihren beiden Axiomen (und sonst nichts ausser Mathematik) abzuleiten, und nur Ihre Zustimmung oder Ihren Widerspruch dazu einholen.

Wir betrachten also mal ein Spielzeuguniversum, das (wie in der Dekohärenztheorie) aus einem System Smit N Basiszuständen und einem Detektor D besteht, und das zum Zeitpunkt t=0 den Zustand
(1) u(0)=|S>|D>
hat, wobei
(2) |S>=sum_a S_a|a>
die Basiszerlegung von |S> ist. Gemäss der unitären Entwicklung gilt dann für all Zeiten t die Beziehung
(3) u(t)= sum_a c_a(t)|a>|D_a(t)>
mit
(4) c_a(0)=S_a, E_a(0)=E \für alle a.
Ich hoffe, das ist noch ganz unkontoversiell, hätte aber gerne Ihre Zustimmung dazu.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18740

Beitrag TomS Verfasst am: 31. Mai 2024 14:59    Titel: Antworten mit Zitat

Wenn Sie mir Zeit geben, schreibe ich gerne selbst etwas.

In Ihrem Ansatz vermisse ich die Umgebung.

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A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 31. Mai 2024 15:08    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Wenn Sie mir Zeit geben, schreibe ich gerne selbst etwas.

Zeit haben wir genug.
TomS hat Folgendes geschrieben:

In Ihrem Ansatz vermisse ich die Umgebung.

Die habe ich erst mal weggelassen, damit die Formeln einfacher werden und ich lieber in kleinen Schritten vorgehe, damit ich alle Missverständnisse gleich korrigieren kann, bevor ich mit unnötige Arbeit gemacht habe.

Zunächst ist es ja nur ein Spielzeugmodell. Aber Sie dürfen gerne auch noch einen Faktor |E> für das Environment dranhängen. In (4) sollte es natürlich zweimal D statt E heissen, aber ich kann nichts nachträglich etitieren, bin ja nur ein Gast (und will das auch bleiben).

Der Formeleditor hier ist übrigens miserabel, selbst das muss man von Hand einfügen. Und wenn ich mit meinem Editor die texte mache - der kodiert die Umlaute anders, so dass der Text beim Kopieren in das Fenster hier ganz unlesbar ankommt. Daher die vereinfachte Schreibweise.
Freizeitphysiker
Gast





Beitrag Freizeitphysiker Verfasst am: 31. Mai 2024 15:15    Titel: Antworten mit Zitat

Zwischenfrage, vielleicht nebensächlich:

TomS hat Folgendes geschrieben:
Die Struktur des Zustandsvektors des Gesamtsystems (M für Messgerät und E für Environment) nach Messung lautet



Wie genau sehen hier die "cross terms" aus? Du redest schon von einer Situation, in der für alle a gilt oder?
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 31. Mai 2024 15:30    Titel: Antworten mit Zitat

Freizeitphysiker hat Folgendes geschrieben:
Zwischenfrage, vielleicht nebensächlich:

TomS hat Folgendes geschrieben:
Die Struktur des Zustandsvektors des Gesamtsystems (M für Messgerät und E für Environment) nach Messung lautet



Wie genau sehen hier die "cross terms" aus?

Die korrekte Formel ist

wenn das System n Zustände hat, der Detektor p, und die Umgebung q. Das Verhalten für grosse t ist nicht übersichtlich zu beschreiben.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 31. Mai 2024 15:35    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
In Ihrem Ansatz vermisse ich die Umgebung.

Mit Umgebung als drittem Faktor gelten die Dekohärenzformeln übrigens nicht mehr. Schlosshauer betrachtet jedenfalls nirgends ein temsorproduct von drei Faktoren.
Freizeitphysiker
Gast





Beitrag Freizeitphysiker Verfasst am: 31. Mai 2024 15:39    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Freizeitphysiker hat Folgendes geschrieben:
Zwischenfrage, vielleicht nebensächlich:

TomS hat Folgendes geschrieben:
Die Struktur des Zustandsvektors des Gesamtsystems (M für Messgerät und E für Environment) nach Messung lautet



Wie genau sehen hier die "cross terms" aus?

Die korrekte Formel ist



wenn das System n Zustände hat, der Detektor p, und die Umgebung q. Das Verhalten für grosse t ist nicht übersichtlich zu beschreiben.


Ja, das ist die allgemeine Basiszerlegung eines beliebigen Vektors. Aber TomS wollte die Situation "nach einer Messung" beschreiben. Oft wird dabei verlangt, dass die Zeitentwicklung die Eigenzustände eindeutig mit den Zeigerzuständen korreliert, in der Art, dass eine Bedingung der Form
für alle a erfüllt ist.
(Das heißt menes Wissens auch von-Neumann-Schema und "definiert" für einige, wann eine Wechselwirkung eine "ideale" Messung ist.)

Wegen der Lineaität entstehen dabei natürlich keine cross terms. Deswegen meine Frage ob diese Situation gemeint ist.
Freizeitphysiker
Gast





Beitrag Freizeitphysiker Verfasst am: 31. Mai 2024 15:42    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
In Ihrem Ansatz vermisse ich die Umgebung.

Mit Umgebung als drittem Faktor gelten die Dekohärenzformeln übrigens nicht mehr. Schlosshauer betrachtet jedenfalls nirgends ein temsorproduct von drei Faktoren.


Ich glaube es spielt auch keine große Rolle. Die Abgrenzung zwischen Detektor und Umgebung kommt mir recht unscharf vor. Der Detektor kann das ganze restliche Universum sein.
Freizeitphysiker
Gast





Beitrag Freizeitphysiker Verfasst am: 31. Mai 2024 15:51    Titel: Antworten mit Zitat

Freizeitphysiker hat Folgendes geschrieben:
Aber TomS wollte die Situation "nach einer Messung" beschreiben. Oft wird dabei verlangt, dass die Zeitentwicklung die Eigenzustände eindeutig mit den Zeigerzuständen korreliert, in der Art, dass eine Bedingung der Form
für alle a erfüllt ist.


Siehe auch Abschnitt 2.5.1 in Schlosshauers Buch "Decoherence", besonders Gln. (2.52) und (2.54). (Daher habe ich anscheinend auch die Bezeichnung "von-Neumann-Schema")
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18740

Beitrag TomS Verfasst am: 31. Mai 2024 16:44    Titel: Antworten mit Zitat

Wenn Sie mir Zeit geben, schreibe ich gerne selbst etwas.

In Ihrem Ansatz vermisse ich die Umgebung.

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TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18740

Beitrag TomS Verfasst am: 31. Mai 2024 16:58    Titel: Antworten mit Zitat

Freizeitphysiker hat Folgendes geschrieben:
Zwischenfrage, vielleicht nebensächlich:

TomS hat Folgendes geschrieben:
Die Struktur des Zustandsvektors des Gesamtsystems (M für Messgerät und E für Environment) nach Messung lautet



Wie genau sehen hier die "cross terms" aus? Du redest schon von einer Situation, in der für alle a gilt oder?

Zunächst mal folgt der von Neumannsche Messprozess nicht aus den o.g. Axiomen. Er benötigt in irgendeiner Form idealisierte Zeigerzustände und die idealisierte Korrelation "Messwert – Eigezustand". In der Praxis haben wir es aber nicht mit einem eindimensionalen Eigenzustand zu tun. Die (später zu betrachtende) Dichtematrix ist näherungsweise blockdiagonal, wobei ein Block eben nicht eindimensional ist.

Wenn man mit der Dichtematrix argumentiert, erhält man aber den Schwachpunkt, auf den ich hinauswill, auch bei der Idealisierung nach von Neumann.

Den Grenzfall unendlicher Zeit (wenn er existiert und die von dir genannte Struktur liefert) darf ich aber nicht verwenden, denn ich (die MWI) möchte den Zustand und den Vorgang ja für endliche Zeiten ontisch interpretieren.

Mein Kritikpunkt (D) funktioniert m.E. aber auch in der idealisierten Form: gem. MWI entspricht jeder Block einer Welt, und jeder nicht-diagonale Block zerfällt extrem schnell. Ich erhalte also (nach Ausspuren der Umgebung)



Die cross-Terme sind nicht exakt Null, nur in sehr guter Näherung; man kann dies mathematisch und experimentell durchspielen, indem man die Kopplung an die Umgebung variiert.

Die MWI argumentiert hier m.E. nicht konsistent: man weiß (ohne MWI), dass nur die Diagonalterme beobachtbaren Situationen entsprechen, und man berechnet, dass die cross-Terme extrem schnell verschwinden; deswegen behauptet man, dass eine aa- und eine bb-Welt vorliegen.

Man darf aber die Kleinheit der ab- und der ba-Terme nicht benutzen!

Man dürfte sie nur benutzen, wenn



immer exakt gelten würde; aber das ist nicht der Fall.

Warum darf man sie nicht benutzen? Weil in



die Vorfaktoren die Wahrscheinlichkeit bezeichnen, dass nach der Messung der durch den jeweiligen Projektor gegebene Zweig vorliegen wird, während nach der Messung der Wert des Vorfaktors irrelevant für die reale Existenz des Zweiges ist (solange er nicht exakt Null ist); die Realität eines Zweiges (auf der Diagonalen) hängt nicht an dessen Norm. Warum sollte die Norm dann für die nicht-Diagonalterme eine Rolle spielen?

Vom obigen Argument "man weiß (ohne MWI), dass nur die Diagonalterme beobachtbaren Situationen entsprechen, und man berechnet, dass die cross-Terme extrem schnell verschwinden; deswegen behauptet man, dass eine aa- und eine bb-Welt vorliegen" bleibt demnach nur noch "man weiß (ohne MWI), dass nur die Diagonalterme beobachtbaren Situationen entsprechen; deswegen behauptet man, dass eine aa- und eine bb-Welt vorliegen".

Das kann man so tun, es erscheint aber völlig ad hoc. Man "misst die Realität" eines Zweiges sowie die der Interferenzen zwischen Zweigen gewissere mit zweierlei Maß; man spaltet im ersten Fall den Vorfaktor ab und interpretiert den Projektor alleine, im zweiten Fall nicht.

Ich weiß nicht, ob dieses Argument schon irgendwo diskutiert wurde.

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Zuletzt bearbeitet von TomS am 31. Mai 2024 21:21, insgesamt 7-mal bearbeitet
Freizeitphysiker
Gast





Beitrag Freizeitphysiker Verfasst am: 31. Mai 2024 17:20    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Zunächst mal folgt der von Neumannsche Messprozess nicht aus den o.g. Axiomen.


So ist es. Du redest hier also einfach von einer Zerlegung eines beliebigen Zustands bzgl. einer beliebigen Basis in . Über die Dynamik ist aber nichts spezielles vorausgesetzt worden. Das wollte ich nur wissen, danke.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 02. Jun 2024 14:20    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:

TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich denke, das ist das zentrale Missverständnis.

Gemäß Everett et al. – siehe z.B. Wallace – liegen der Quantenmechanik zwei fundamentale Axiome zugrunde:
1. Der physikalische Zustand eines abgeschlossenen Systems wird durch einen Einheitsvektor in einem separablen Hilbertraum beschrieben.
2. Die Zeitentwicklung dieses Einheitsvektors erfolgt immer unitär.

Ende!

Alles weitere – Wahrscheinlichkeiten, Projektionspostulat bzw. Kollaps, die spezielle Auszeichnung einer Messung … – sind nicht Gegenstand der Axiome, sondern Konsequenzen für spezielle Systeme.


Wollen wir also mal schauen, wie weit wir mit diesen zwei fundamentalen Axiomen kommen, ohne etwas anderes zu postulieren.


TomS hat Folgendes geschrieben:
Wir sind uns sehr weitgehend einig.

Mein Verständnis:
1) es gibt eine Welt, ein abgeschlossenes System, Sie nennen es das Universum, mathematisch repräsentiert durch einen Zustandsvektor und dessen unitäre Zeitentwicklung
2) es gibt im Zuge der Wechselwirkung mit makroskopischen Subsystemen einen Prozess der Dekohärenz, mathematisch entwickelt von Zeh et al., der insbs. eine Basis auszeichnet, bzgl. der eine vorzugsweise Zerlegung des Zustandsvektors erfolgt

Zu 2. gibt es schon unlösbare Fragen, wenn man Ihr 'Ende!' ernst nehmen will! Damit ich keine Formeln schreiben muss, nehme ich den Reviewartikel von Schlosshauer 2019 auf arxiv.org/pdf/1911.06282 als Basis für die Dekohärenztheorie.

Wir haben da ein System S und die Umgebung E = Rest des Universums,
(7) ist der Dekohärenzprozess, der die Interferenzterme in (5) entfernt.

Die lineare Mastergleichung (34) ist der Ausgangspunkt vieler Dekohärenzargumente. Die ist aber schon dissipativ. muss also aus Ihren beiden Axiomen hergeleitet werden. Schlosshauer schreibt dazu auf S.16:

Zitat:
Markovian master equations are widely used in the description of decoherence dynamics. They enable a relatively easy calculation of the reduced dynamics while still providing, in many cases of practical interest, a good approximation to the exact dynamics and the experimentally observed data. We will now discuss their derivation and underlying assumptions. [...] In what follows, we will make the usual assumption of an initially uncorrelated system–environment state

Auf S. 18:
Zitat:
There exist several approaches to deriving the dynamical maps representing Markovian master equations [...] The common key assumption underlying these approaches is known as the Markov approximation.

Und auf S.21:
Zitat:
Still, from a physical point of view, it would also be desirable to directly derive Markovian master equations from the underlying Hamiltonian description of the system and its environment. To do so, one proceeds from the total Hamiltonian, H = HS + HE + Hint, and an initially uncorrelated system–environment state, ρSE(0) = ρS(0) ⊗ ρE(0), and then imposes the following two main assumptions. The first assumption is the Born approximation [...] The second assumption is the Markov approximation

Ihre Interpretation sollte doch unabhängig von ad hoc Annahmen sein. Wie folgen also diese Annahmen allein aus Ihren beiden Axiomen? Ohne diese Annahmen geht nämlich die ganze Dekohärenzargumentation flöten!
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 02. Jun 2024 16:24    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:

TomS hat Folgendes geschrieben:

Gemäß Everett et al. – siehe z.B. Wallace – liegen der Quantenmechanik zwei fundamentale Axiome zugrunde:
1. Der physikalische Zustand eines abgeschlossenen Systems wird durch einen Einheitsvektor in einem separablen Hilbertraum beschrieben.
2. Die Zeitentwicklung dieses Einheitsvektors erfolgt immer unitär.

Ende!

Alles weitere – Wahrscheinlichkeiten, Projektionspostulat bzw. Kollaps, die spezielle Auszeichnung einer Messung … – sind nicht Gegenstand der Axiome, sondern Konsequenzen für spezielle Systeme.

Wollen wir also mal schauen, wie weit wir mit diesen zwei fundamentalen Axiomen kommen, ohne etwas anderes zu postulieren.

[...] Ihre Interpretation sollte doch unabhängig von ad hoc Annahmen sein. Wie folgen also diese Annahmen allein aus Ihren beiden Axiomen? Ohne diese Annahmen geht nämlich die ganze Dekohärenzargumentation flöten!

Empfehlenswerte Lektüre zu Everett's Interpretation:

Bryce DeWitt, The Global Approach to Quantum Field Theory, The International Series of Monographs on Physics, Oxford University Press, 2003.

Kapitel 8, 9 und 12 befassen sich damit und mit Dekohärenz, auf didaktisch vorbildliche Weise (wenn man seiner Überzeugung ist).

Auf S.137 setzt er ohne Herleitung aus Ihren Axiomen die Separabilität (8.31) des Zustands voraus. Wie die aus der Dynamik der universellen Wellenfunktion entstehen könnte, ist ein Mysterium, das er grosszügig unkommentiert lässt und nicht einmal erwähnt.

Auf S. 141 setzt er ohne Herleitung aus Ihren Axiomen voraus, dass Messergebnisse permanent kodiert sind. Was ja nur geht, wenn man Irreversibilität hat, diesen Schönheitsfehler vergisst er leider zu erwähnen.

Auf S.140 schreibt er:
Zitat:
This viewpoint, originally due to Everett, has become widespread in recent years because of the increasing importance of quantum cosmology, for which it is indispensable.

Und auf S. 144:
Zitat:
Everett's interpretation has been adopted by the author out of practical necessity: he knows of no other. At least he knows of no other that imposes no artificial limitations or fuzzy metaphysics while remaining able to serve the varied needs of quantum cosmology, mesoscopic quantum physics, and the looming discipline of quantum computation.


Er schimpft also wie ich auf alle andern Interpretationen, die seine Kriterien nicht erfüllen - trotz der fuzzy metaphysics seiner eigenen.

Ich denke, über die TI zu schimpfen fände er keinen Grund.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18740

Beitrag TomS Verfasst am: 02. Jun 2024 16:26    Titel: Antworten mit Zitat

Zum ersten Beitrag und Schlosshauer:

Sorry, das kann ich nicht nachvollziehen.

Die QM – sei's nach von Neumann, der Axiomatik der MWI o.a. – ist sozusagen eine Meta-Theorie.

Was sie anführen, fehlt bei allen.

Um einen konkreten Prozess für ein konkretes System zu betrachten und interpretieren zu können, brauche ich einen konkreten Hamiltonoperator, ggf. weitere Observablen, Lösungsansätze, Näherungsmethoden etc.

Für zu simple Systeme – ein Atom, ein Molekül u.a.m. – kann ich überhaupt keinen Prozess und schon gar keine Messung beschreiben. In einem genügend komplizierten System kann ich das evtl. tun, brauche dazu aber geeignete Werkzeuge und insbs. eine Näherungslösung, die die relevanten Strukturen nicht eliminiert.

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A.Neumaier
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Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 02. Jun 2024 17:09    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Zum ersten Beitrag und Schlosshauer:

Sorry, das kann ich nicht nachvollziehen.

Was ist ''das''? Bitte zitieren Sie, worauf Sie sich beziehen. Dazu gibt es die quote-Umgebung.
TomS hat Folgendes geschrieben:


Die QM – sei's nach von Neumann, der Axiomatik der MWI o.a. – ist sozusagen eine Meta-Theorie.

Nicht, wenn man Ihre Axiome (samt 'Ende!') postuliert. Dann ist nämlich durch die universelle Wellenfunktion und ihre Dynamik schon alles gegeben, was sich über das Universum und daher über ihre Teilsysteme sagen lässt.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Was Sie anführen, fehlt bei allen.

Eben, weil man viel zusätzlich postulieren muss, und es deshalb alle tun. Das haben Sie bisher offensichtlich übersehen! Zu behaupten, dass mit Ihren beiden Postulaten 'Ende!' ist, scheint also Ihre persönliche Zutat zu sein. Obwohl Sie anderswo schreiben:
Zitat:
Die MWI schätze ich, weil sie verstehen will, und weil sie offene Fragen nicht verbietet

... während Ihr 'Ende!' es verbietet, notwendige Zusatzannahmen zu postulieren!

Auch ich postuliere für die TI etwas - die DRP, aber sonst nichts. Alles andere wird definiert oder hergeleitet, bevor es benutzt wird.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Um einen konkreten Prozess für ein konkretes System zu betrachten und interpretieren zu können, brauche ich einen konkreten Hamiltonoperator, ggf. weitere Observablen, Lösungsansätze, Näherungsmethoden etc.

Gemäss Ihren Axiomen (und nach de Witt) ist das konkrete System das Universum, denn nur das hat eine unitäre Entwicklung. In diesem System können Sie mathematische Objekte anschauen (also z.B. Mengen S und D von Teilchen heraussuchen, die Sie System und Detektor nennen. Aber wie die sich verhalten, ist (unter Ihrer Grundannahme) durch die Dynamik des unitären Systems bestimmt, nicht durch die einer einfach so herbeigezauberten kleinen Hamiltonian. Die gibt es nämlich nicht, da S+D ja offen ist, also keiner Schrödingergleichung genügt. Zumindest muss die Zauberei begleitet sein von einer (aus der Dynamik des unitären Systems) begründeten Abschätzung der Genauigkeit, mit der man eine Schrödingergleichung näherungsweise benutzen kann. Und für makroskopische Systeme würde man finden, dass sich für realistische Zeitintervalle keine sinnvollen Genauigkeiten ergeben.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Für zu simple Systeme – ein Atom, ein Molekül u.a.m. – kann ich überhaupt keinen Prozess und schon gar keine Messung beschreiben. In einem genügend komplizierten System kann ich das evtl. tun, brauche dazu aber geeignete Werkzeuge und insbs. eine Näherungslösung, die die relevanten Strukturen nicht eliminiert.

Ja, und die müssen Sie, wenn Sie Ihr 'Ende!' aufrechterhalten wollen, mathematisch aus dem, was Sie schon postuliert haben, durch Definitionen und Folgerungen produzieren, wie überall in der mathematischen Physik.

S+D genügt approximativ einer nichtlinearen Lindbladgleichung, die (im Prinzip, vgl. die Referenzen 8 und 159-165 von Schlosshauer, S.24) aus dem Projektionsformalismus von Zwanzig abgeleitet werden kann. Bei metastabilen Systemen wie einem Detektor kann man aber die Nichtlinearitäten nicht mehr vernachlässigen, sonst lebt ein metastabiler Zustand ewig, auch wenn nur ganz wenig Aktivierungsenergie nötig ist, um die Potentialbarriere zu überwinden - was wir nicht beobachten. Daher kann die Dekohärenztheorie, die auf der linearen Lindbladgleichung beruht, auch nichts über den messprozess (der metastabil ist) aussagen.
TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 02. Jun 2024 19:30    Titel: Antworten mit Zitat

In der "orthodoxen" QM postuliert man üblicherweise:
1) Hilbertraum-Zustand zur Beschreibung eines Systems (oder eines Ensembles)
2) unitäre Zeitentwicklung / Schrödingergleichung mit einem Hamiltonian H
3) Regeln für die Messung, also
3.1) Observablen A, Eigenwerte => mögliche Messwerte
3.2) Bornsche Regel
3.3) von Neumannsches Projektionspostulat
Verschiedene Interpretationen weichen in den einzelnen Punkten voneinander ab. Die MWI verzichtet vollständig auf (3).

Analog kann man die klassische Mechanik am Prinzip der kleinsten Wirkung S aufziehen.

Die Allgemeine Relativitätstheorie postuliert die Einstein-Hilbert-Wirkung plus eine Wirkung S für weitere Felder.

Das ist der axiomatisches Rahmen, so habe ich Physik gelernt.

Dazu gehört nicht ein spezielles H oder S, keine speziellen Observablen A, keine Lösungs- und Näherungsmethoden … All dies wird weder auf dieser allgemeinen Ebene postuliert noch aus den o.g. Postulaten bzw. Axiomen abgeleitet, es ist Bestandteil der spezifischen Modellbildung.

Insofern fehlt bei der MWI – auf dieser Ebene – fast nichts. Anstelle von (3) werden andere Voraussetzungen zur Ableitung von (3.2) diskutiert; wir sind uns einig, dass dies noch nicht zufriedenstellend gelungen ist.

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A.Neumaier
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Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 02. Jun 2024 20:21    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
In der "orthodoxen" QM postuliert man üblicherweise:
1) Hilbertraum-Zustand zur Beschreibung eines Systems (oder eines Ensembles)
2) unitäre Zeitentwicklung / Schrödingergleichung mit einem Hamiltonian H

2) aber nur für abgeschlossen Systeme.
TomS hat Folgendes geschrieben:

3) Regeln für die Messung, also
3.1) Observablen A, Eigenwerte => mögliche Messwerte
3.2) Bornsche Regel
3.3) von Neumannsches Projektionspostulat
Verschiedene Interpretationen weichen in den einzelnen Punkten voneinander ab. Die MWI verzichtet vollständig auf (3).

Das ist der axiomatisches Rahmen, so habe ich Physik gelernt.

Eine Version von 3.2) wird aber in der Praxis gebraucht. Da die MWI das nicht herleiten kann, und auf 3) verzichtet, leistet sie offensichtlich weniger als die orthodoxe QM.

Und da das einzige wirklich abgeschlossene System das Universum ist, muss H in 2) der Hamiltonoperator des Universums sein. Man kann aber natürlich verschiedene Modelluniversen betrachten, mit unterschiedlichen Hilberträumen und unterschiedlichen H.

Für Subsysteme des Universums kann aber 2) nur approximativ gelten, und man kann keine Schlüsse ziehen über das Verhalten extrem sensitiver Terme wie Koeffizienten von Basiselementen makroskopischer Wellenfunktionen. Das macht auch niemand, der Modelle macht, die sich experimentell überprüfen lassen. Dort wird (anders als in Lehrbüchern für Anfänger) die orthodoxe QM in der obigen Form höchstens auf winzige Quantensysteme mit höchstens einer Handvoll Levels angewendet - oder statistische Mechanik bzw. dissipative Lindbladgleichungen mit reduzierten Dichteoperatoren!
TomS hat Folgendes geschrieben:

Dazu gehört nicht ein spezielles H oder S, keine speziellen Observablen A, keine Lösungs- und Näherungsmethoden … All dies wird weder auf dieser allgemeinen Ebene postuliert noch aus den o.g. Postulaten bzw. Axiomen abgeleitet, es ist Bestandteil der spezifischen Modellbildung.

Genau. Aber die Annahme, S+D sei ein abgeschlossenes System, ist experimentell nachweisbar falsch (wir finden Dissipation in allen makroskopischen Systemen). Also kann man für die 2) nicht annehmen.
Man muss also ein grösseres abgeschlossenes System betrachten und daraus eine approximative Dynamik für S+D herleiten und deren Genauigkeit abschätzen. S+D genügt dann auf keinen Fall einer Schrödingergleichung, sondern einer nichtlinearen Lindbladgleichung! Wenn Everett, de Witt, oder Zeh trotzdem so tun, als ob man mit linearen Superpositionen argumentieren könne, so ist das inkonsistent.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Insofern fehlt bei der MWI – auf dieser Ebene – fast nichts.

fast nichts???

Fast alles, denn experimentell sieht man die Dissipation überall (line broadening, detection inefficiencies,...) und die Experimentatoren wissen genau, dass sie mit dissipativen (entropievergrössernden) Gleichungen rechnen müssen. Die sind das tägliche Brot der Quantenoptiker un Quanteninformatiker! Auch Dekohärenz arbeitet mit Lindbladgleichungen, die entropievergrössernd sind, deshalb bleiben reine Anfangszustände nicht rein.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Anstelle von (3) werden andere Voraussetzungen zur Ableitung von (3.2) diskutiert; wir sind uns einig, dass dies noch nicht zufriedenstellend gelungen ist.

Ja. Die MWI ist also weniger zufriedenstellend als die orthodoxe QM.
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 02. Jun 2024 21:03    Titel: Antworten mit Zitat

Ja, es fehlt auf dieser axiomatischen Ebene fast nichts.

(2) trifft zu, da man ein abgeschlossenes System zugrundelegt. Anstelle von (3) benötigt man ein anderes Prinzip; dass man das noch nicht identifiziert hat, wissen wir.

Dann benötigt man spezifische Modelle (und damit jeweils H) innerhalb dieses Rahmens, jedoch nicht auf der selben Ebene. Wenn man stattdessen offene Subsysteme betrachtet, muss eine geeignete Näherung o.ä. finden; warum das etwas an den Axiomen ändern muss, verstehe ich nicht.

Aus meiner Sicht ist die MWI insbs. an der Stelle (3) unfertig und muss vervollständigt werden. Die Standard-QM ist an der Stelle (3) schlicht Flickschusterei – funktioniert, erklärt aber nichts.

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A.Neumaier
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Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 03. Jun 2024 10:57    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Dazu gehört nicht ein spezielles H oder S, keine speziellen Observablen A, keine Lösungs- und Näherungsmethoden … All dies wird weder auf dieser allgemeinen Ebene postuliert noch aus den o.g. Postulaten bzw. Axiomen abgeleitet, es ist Bestandteil der spezifischen Modellbildung.


Dass man spezielle H annehmen kann, geht nur in einer epistemischen (wissensbasierten) Interpretation. Da können nämlich zwei verschiedene Forscher je nach ihrem Wissen verschiedene Annahmen treffen, und beides ist korrekt, wenn es deren Wissen korrekt abbildet.

Aber in einer ontischen (realistischen) Interpretation geht das nicht. Die will nämlich beschreiben, was ist, und dann kann es höchstens ein korrektes H pro betrachtetem System geben. Und man kann bei einem Subsystem dieses Systems hat man gar keine Freiheit mehr, da die Dynamik des Systems die des Subsystems festlegt. Man kann also nur für das grösste betrachtete System, also das Universum, Annahmen machen - daraus folgt dem Anspruch einer realistischen Interpretation nach schon alles andere.

Ontische Interpretationen sind also extrem eingeschränkt gegenüber epistemischen.

Oder wollen Sie sagen, die MWI ist nicht ontisch, sondern epistemisch?
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 03. Jun 2024 11:01    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Ja, es fehlt auf dieser axiomatischen Ebene fast nichts.

In Ihrer Beschreibung fehlen ''nur'' 60% der Zeilen. 40% sind noch da. Gemäss Ihrer Argumentation ist also auf dieser axiomatischen Ebene noch weniger als ''fast nichts'' da.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 03. Jun 2024 11:05    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
JDie Standard-QM ist an der Stelle (3) schlicht Flickschusterei – funktioniert, erklärt aber nichts.

Sie erklärt alles, dadurch, dass sie sagt, dass die Dynamik einen offenen Systems eine andere ist als die eines abgeschlossenen Systems.

Flickschusterei ist dagegen Ihre VZI, weil Sie beliebigen Subsystemen des Universums (also offenen Systemen) durch blosse Modellierung ein ontisches H verpassen und damit eine unitäre Dynamik unterschieben.
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 03. Jun 2024 13:45    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Aber in einer ontischen (realistischen) Interpretation geht das nicht. Die will nämlich beschreiben, was ist, und dann kann es höchstens ein korrektes H pro betrachtetem System geben.

Streng genommen wäre das so.

Aber solange wir für ein spezielles System diesen einen korrekten Hamiltonian noch nicht kennen, werden wir uns diesem eben auf verschiedene Weisen nähern müssen.

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Und man kann bei einem Subsystem dieses Systems hat man gar keine Freiheit mehr, da die Dynamik des Systems die des Subsystems festlegt.

Streng genommen wäre das so.

Aber auch da ist es so, dass wir die Dynamik des Subsystems meist nicht exakt ableiten können, sondern auf Näherungen angewiesen sind.

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Man kann also nur für das grösste betrachtete System, also das Universum, Annahmen machen - daraus folgt dem Anspruch einer realistischen Interpretation nach schon alles andere.

Um es auf den Punkt zu bringen: diese Auffassung des Begriffs der "ontischen Interpretation" habe ich nirgendwo anders jemals gelesen, vertrete ich selbst nicht und habe ich auch nie so gemeint.

Mir ging es immer um eine ontische Auffassung auf der von mir genannten (axiomatischen) Meta-Ebene (die Ihnen unvollständig erscheint), nicht auf der Ebene einzelner Modelle. Dass man damit immer eine Theore bzw. Modell ontisch interpretiert, das die Natur nicht exakt sondern nur in gewissen Aspekten und in einer gewissen Näherung zutreffend beschreibt, ist natürlich richtig. Die Interpretationen eines starren Körpers oder eines besseren Modells wie die eines elastischen Körpers sind beide ontisch und fügen sich in die selbe Meta-Ebene der klassischen Mechanik ein.

Genauso fügen sich die ontischen Interpretationen verschiedener Quantensysteme oder verschiedener Approximationen in die selbe Meta-Ebene ein.



Ich sehe aber Ihren wesentlichen Punkt: die unitäre Zeitentwicklung gilt nur für abgeschlossene Systeme; damit kann man den von mir genannten Rahmen zunächst nur für diese ontisch interpretieren. Tue ich es auch für nicht-abgeschlossene Systeme, so begehe ich vielleicht einen kleinen, möglicherweise aber auch einen sehr großen Fehler, nämlich den, dass die unitäre Dynamik für Subsysteme schlicht falsch ist und deswegen Artefakte wie fiktionale Multiplizitäten, Zweige, Welten ... you name it ... generiert werden, die ich nicht ontisch interpretieren darf.

Damit wäre nicht der o.g. axiomatische Rahmen und dessen ontische Interpretation an sich falsch, sondern die Annahme, auch offene Systeme dürften mittels der unitären Dynamik beschrieben und alle daraus resultierenden Strukturen ontisch interpretiert werden.

Mir ist natürlich klar, dass offene Systeme keiner unitären Dynamik folgen. Mir war aber nicht klar, dass Sie dies als ganz prinzipielles Problem sehen und sagen: in keinem Fall darf ich annehmen, dass ein realistisches Subsystem (eine Photozelle ... ein Detektor am LHC...) genügend gut isoliert ist, so dass ich es als isoliertes System betrachten darf. Das ist immer falsch, und die Multiplizität, die Zweige ... zeigen mir, dass es falsch ist. Und eine ontische Interpretation von derartigen Artefakten ist noch nicht einmal falsch (um es mit Pauli zu sagen).

Ist das wesentlichen Ihr Punkt?
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 03. Jun 2024 15:08    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Aber in einer ontischen (realistischen) Interpretation geht das nicht. Die will nämlich beschreiben, was ist, und dann kann es höchstens ein korrektes H pro betrachtetem System geben.

Streng genommen wäre das so.

Aber solange wir für ein spezielles System diesen einen korrekten Hamiltonian noch nicht kennen, werden wir uns diesem eben auf verschiedene Weisen nähern müssen.

Wir fangen an, uns einander zu nähern. smile

Ein spezielles abgeschlossenes System ist ein spezielles Universum. Da haben wir Freiheit, herumzuprobieren, was am besten zu unserm Universum passt. Natürlich ist das nicht exakt, aber wenigstens konsistent. Mehr erwartet man da auch nicht. Man kann z.B. unsere Erde als nichtrelativistisches N-Teilchen System ansehen, mit einer phänomenologischen Wechselwirkung, und alles ausserhalb als externe zeitabhängige Felder. Man kann meinetwegen sogar
S+D+E als abgeschlossenes System ansehen und E als Wärmebad, damit man etwas rechnen kann.

Aber ein Messgerät D und daher S+D ist ein dissipatives, irreversibles System, garantiert nicht abgeschlossen. Das ist ein experimentelles Faktum - alles Makroskopische auf unsrer Erde tauscht Energie mit der Umgebung aus. Es daher durch eine unitäre Dynamik zu beschreiben, führt also zu gravierenden Fehlern.
TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Und man kann bei einem Subsystem dieses Systems hat man gar keine Freiheit mehr, da die Dynamik des Systems die des Subsystems festlegt.

Streng genommen wäre das so.

Aber auch da ist es so, dass wir die Dynamik des Subsystems meist nicht exakt ableiten können, sondern auf Näherungen angewiesen sind.

Genau. Aber diese Näherungen muss man herleiten aus der Dynamik des unitären grösseren Systems, nicht einfach durch freie Wahl herbeizaubern!

Dafür gibt es den Projektionsoperator-Formalismus von Zwanzig, der in der statistischen Mechanik seit den 60er Jahren gute Dienste geleistet hat. Er führt je nach Wahl der Approximation entweder auf eine zeitlich nichtlokale lineare Lindbladartige Dynamik mit Gedächtnis oder eine zeitlich lokale (Markov) nichtlineare Lindbladdynamik. Vernachlässigt man das Gedächtnis bzw. die Nichtlinearität, bekommt man die Lindblad-Gleichung (quantum master equation), mit der die Dekohärenztheorie ihre Abklingraten berechnet. Aber diese Vernachlässigung ist nicht mehr erlaubt, wenn in der nichtlinearen Dynamik instabile Fixpunkte da sind. (Im zeitlich nichtlokalen Fall habe ich nicht genug Einsicht, was da genau passiert.) Denn in der Nähe dieser Fixpunkte ist die Dynamik extrem sensitiv. Der Ursprung des Chaos beruht genau darauf - der Lorenz-Attraktor hat so einen Fixpunkt in der Mitte, wo sich die beiden Flügel der Trajektorien treffen. Und das Chaos verschwindet, wenn man linearisiert. Die Linearisierung verändert also das Verhalten schon qualitativ (und erst recht quantitativ).
TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Man kann also nur für das grösste betrachtete System, also das Universum, Annahmen machen - daraus folgt dem Anspruch einer realistischen Interpretation nach schon alles andere.

Um es auf den Punkt zu bringen: diese Auffassung des Begriffs der "ontischen Interpretation" habe ich nirgendwo anders jemals gelesen,

Ich auch nicht, aber nur so ist eine ontische Interpretation logisch konsistent. Es folgt aus der Natur des Ontischen!
TomS hat Folgendes geschrieben:

Mir ging es immer um eine ontische Auffassung auf der von mir genannten (axiomatischen) Meta-Ebene (die Ihnen unvollständig erscheint), nicht auf der Ebene einzelner Modelle. Dass man damit immer eine Theore bzw. Modell ontisch interpretiert, das die Natur nicht exakt sondern nur in gewissen Aspekten und in einer gewissen Näherung zutreffend beschreibt, ist natürlich richtig. Die Interpretationen eines starren Körpers oder eines besseren Modells wie die eines elastischen Körpers sind beide ontisch und fügen sich in die selbe Meta-Ebene der klassischen Mechanik ein.

Ein starrer Körper in einem klassischen äusseren Feld ist für sich genommen eine ontisch konsistente Welt - ein Spielzeuguniversum, mit dem man schon Physik machen kann. In unserer echten Welt muss man natürlich Reibung usw. berücksichtigen, dann wird alles schon wesentlich komplizierter. In einem Lehrbuch wird man also nur kleine ontische Welten behandeln können, aber innerhalb denen muss man konsistent sein. Wenn man an einem starren Würfel das Subsystem der 6 Ecken herausnimmt, ist deren Dynamik durch die des starren Köpers auch vollständig determiniert. Da kann man nicht zusätzlich etwas annehmen!

Ebenso ein elastischer Körper, usw., nur dass es da schon wesentlich komplizierter ist.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich sehe aber Ihren wesentlichen Punkt: die unitäre Zeitentwicklung gilt nur für abgeschlossene Systeme; damit kann man den von mir genannten Rahmen zunächst nur für diese ontisch interpretieren. Tue ich es auch für nicht-abgeschlossene Systeme, so begehe ich vielleicht einen kleinen, möglicherweise aber auch einen sehr großen Fehler, nämlich den, dass die unitäre Dynamik für Subsysteme schlicht falsch ist und deswegen Artefakte wie fiktionale Multiplizitäten, Zweige, Welten ... you name it ... generiert werden, die ich nicht ontisch interpretieren darf.

Ja. und nicht nur möglicherweise, sondern tatsächlich! Beim Messgerät von de Witt tritt z.B. ein Gedächtnis auf (das, was die Quanteninformatiker ancilla nennen), aber ein Gedächtnis muss permanent sein, und das erfordert Dissipation. Ein Polarisationsfilter, das nur auf einen Freiheitsgrad eines Photons angewendet wird, projiziert einen Teil des Lichts weg (Energieverlust = Dissipation). So ist es überall.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Damit wäre nicht der o.g. axiomatische Rahmen und dessen ontische Interpretation an sich falsch,

Axiome sind nie falsch. Was falsch ist, ist zu behaupten, dass man aus ihnen allein die vielen Welten herbeizaubern könnte. Dazu braucht man ausser der Unitarität einige Zusatzannahmen, die mit der ontischen Interpretation des Ganzen oder der Teile, oder ihrer Realisierung in unsrer Welt unverträglich sind.
TomS hat Folgendes geschrieben:

sondern die Annahme, auch offene Systeme dürften mittels der unitären Dynamik beschrieben und alle daraus resultierenden Strukturen ontisch interpretiert werden.

Mir ist natürlich klar, dass offene Systeme keiner unitären Dynamik folgen. Mir war aber nicht klar, dass Sie dies als ganz prinzipielles Problem sehen und sagen: in keinem Fall darf ich annehmen, dass ein realistisches Subsystem (eine Photozelle ... ein Detektor am LHC...) genügend gut isoliert ist, so dass ich es als isoliertes System betrachten darf. Das ist immer falsch,

Nicht immer, aber meistens. Man muss gute Gründe dafür vorweisen, dass es richtig ist. Zwei verschränkte Photonen mit unitärer Dynamik zu präparieren ist heutzutage leicht. Aber fünf davon, das erfordert schon Griffe in die quanteninformatische Trickkiste (Dynamical entanglement).

Quantencomputer haben genau dieses Problem mit der Unitarität - mehr als nur ganz wenige qubits können nicht mehr mit hoher Genauigkeit isoliert werden. Schon um 50 qubits zu orchestrieren (in der Grössenordnung ist man zur Zeit) muss man Gebrauch von Quanten-Fehlerkorrektur-Codes machen, damit trotz des Verlusts der Unitarität noch sinnvoll gearbeitet werden kann. Und ob man es je auf 100 qubits schafft, ist fraglich; die Schwierigkeiten scheinen exponentiell zu wachsen.
TomS hat Folgendes geschrieben:

und die Multiplizität, die Zweige ... zeigen mir, dass es falsch ist. Und eine ontische Interpretation von derartigen Artefakten ist noch nicht einmal falsch (um es mit Pauli zu sagen).
Ist das wesentlichen Ihr Punkt?

Multiplizität der Zweige ist hier irrelevant. Die ontische Position wird nicht konsequent durchgehalten, und die Zusatzannahmen widersprechen der Realität, wie wir sie messen können. Das ist das Problem.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 03. Jun 2024 15:34    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
In der "orthodoxen" QM postuliert man üblicherweise:
1) Hilbertraum-Zustand zur Beschreibung eines Systems (oder eines Ensembles)
2) unitäre Zeitentwicklung / Schrödingergleichung mit einem Hamiltonian H
3) Regeln für die Messung, also
3.1) Observablen A, Eigenwerte => mögliche Messwerte
3.2) Bornsche Regel
3.3) von Neumannsches Projektionspostulat
Verschiedene Interpretationen weichen in den einzelnen Punkten voneinander ab. Die MWI verzichtet vollständig auf (3).

Die TI verzichtet übrigens vollständig auf 2) und 3). Statt dessen zeigt sie, dass beides nur in speziellen Fällen gilt, und gibt damit implizit deren Gültigkeitsgrenzen an. Sie braucht natürlich dafür ein neues Axiom. Das ist das DRP. Das ist experimentell unmittelbar (an Subsystemen) überprüfbar und daher viel harmloser als 2) oder 3), die in der (epistemischen) orthodoxen QM einfach vom Himmel fallen. Die ontischen Probleme der MWI (die das problematische 2) annimmt), die wir eben besprochen haben, fallen weg.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18740

Beitrag TomS Verfasst am: 03. Jun 2024 15:54    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Wir fangen an, uns einander zu nähern. :)

Und das tun wir umso schneller, je eher wir die Diskussion über die vielen Welten beenden,
i) die Sie persönlich überhaupt nicht schätzen,
ii) zu denen ich selbst hier im Wesentlichen mein Verständnis darstellen sollte bzw. wollte – nicht jedoch meine diesbzgl. Überzeugung,
iii) zu denen ich selbst bereits Kritikpunkte formuliert hatte,
iv) und ich nun besser verstehe, wie gravierend die Ihrigen sind.

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antaris



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Beitrag antaris Verfasst am: 03. Jun 2024 19:14    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Man kann also nur für das grösste betrachtete System, also das Universum, Annahmen machen - daraus folgt dem Anspruch einer realistischen Interpretation nach schon alles andere.

Um es auf den Punkt zu bringen: diese Auffassung des Begriffs der "ontischen Interpretation" habe ich nirgendwo anders jemals gelesen,

Ich auch nicht, aber nur so ist eine ontische Interpretation logisch konsistent. Es folgt aus der Natur des Ontischen!


Danke! Dann waren meine groben Überlegungen streng genommen nie so falsch, wie es mir zumeist vorgeworfen wurde.

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Aber in einer ontischen (realistischen) Interpretation geht das nicht. Die will nämlich beschreiben, was ist, und dann kann es höchstens ein korrektes H pro betrachtetem System geben. Und man kann bei einem Subsystem dieses Systems hat man gar keine Freiheit mehr, da die Dynamik des Systems die des Subsystems festlegt. Man kann also nur für das grösste betrachtete System, also das Universum, Annahmen machen - daraus folgt dem Anspruch einer realistischen Interpretation nach schon alles andere.


Siehe dazu folgende Beiträge, alle im gleichen Thread (nur das wesentliche, also ohne von mir zusätzlich "hineinphantasiertes" zitiert):
http://www.quanten.de/forum/showpost.php5?p=101643&postcount=1
antaris hat Folgendes geschrieben:
...die Natur ist aber erstmal nichts stochastisches. Im Makrokosmos gilt Ursache und Wirkung. Das stochastische betrifft "nur" den Grenzfall der Unschärfe? Wo ist die Grenze zwischen Ursache und Wirkung einerseits und der "absoluten" Stochastik andererseits?
Was ist der explizite Grund dafür, dass die Wahrscheinlichkeiten nicht Ausdruck unserer Unkenntnis sein können?
...
Auch das punktförmige Teilchen ist Dekohärenz ausgesetzt und das zu jeder Zeit. Sicher ist es so, dass die Wechselwirkungen und damit die Dekohärenz steigt, je größer die Struktur ist. Alleine schon daher, weil jede große Struktur aus kleineren Strukturen besteht und somit in sich schon Dekohärenz wirkt.

Betrachtet man ein Teilchen nur für sich alleine im abgeschlossenen System, so kann natürlich keine Dekohärenz wirken.


http://www.quanten.de/forum/showpost.php5?p=101660&postcount=7
antaris hat Folgendes geschrieben:
Es geht darum, dass eben nicht nur eine Messung einen Kollaps verursacht, sondern schon die Umgebung als Apperat anzusehen ist, denn das Messinstrument gehört zur Umgebung.
Ein System kann nur theorethisch abgegrenzt von seiner Umgebung betrachtet werden. In der Realität kann aber eben kein System von der Umgebung abgegrenzt werden.


http://www.quanten.de/forum/showpost.php5?p=101693&postcount=9
antaris hat Folgendes geschrieben:
Die VWI muss vielleicht nur anders interpretiert werden. Ich bin zwar vom Multidimensionalen weg aber die Idee der unendlichen Verschachtelung der Raumzeiten ist nach wie vor Bestandteil meines Weltbilds.
Die Mandelbrotmenge ist ja auch eine einheitlliche Dimension und hat überall die gleichen Freiheitsgrade.
Das bringt ebenso eine VWI aber eben alle in der gleichen Raumzeit, jedes gefangen in Gravitationsmonster, die ohne ein Sternenleben direkt aus der Energie des Urknalls entstanden sind (primordiale SL's). Wir leben in einem SL und der Urknall hat nie aufgehört, er wird nur immer komplexer.
Dabei sind das keine Parallelwelten, sondern Großstrukturen, die aus kleineren Teilmengen (Galaxienhaufen) bestehen. Nur das Universum selbst ist das große Ganze und in sich abgeschlossen.

Die chaotischen Systeme und deren fraktalen Raumdimensionen (Chaostheorie) sind Perfekt dafür geeignet (vor allem weil es eben keine neue aber dafür scheinbar vollkommen unterschätzte Theorie ist).


Von der TI habe ich erst danach aber im weiteren Verlauf des gleichen Threads zum ersten mal gelesen, siehe:
http://www.quanten.de/forum/showpost.php5?p=101821&postcount=25
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